Ich hatte mal einen Traum. Darin fühlte es sich so an, als ob ich gleich mein ganzes Leben verstehen würde. Verschiedene Teile fügten sich nach und nach zu einem großen Ganzen zusammen. Es war, ein bisschen wie beim Zusammenbauen eines Ikeamöbels, nur ohne Aufbauanleitung und ohne Bild, wie es am Ende aussehen soll. Einzelstück an Einzelstück wurde aneinandergesetzt. Dabei hatte ich das Gefühl, dass ich gleich den großen Sinn und Alles verstehen würde. Dann wachte ich auf. Nun habe ich ein Buch gelesen, bei dem ich mich an diesen Traum erinnert fühlte. “Herr Sturm und die Farbe des Windes” von Jens Böttcher wirkt wie ein Versuch etwas Großes, Unfassbares zu erklären mit Tiefe und Geheimnis.
Eine innere Reise
Der Ich-Erzähler, gleichzeitig die Haupfigur des Buches, verdient hauptsächlich mit dem Schreiben von Drehbüchern für Fernsehsoaps seinen Lebensunterhalt. Früher hat er mal einen Gedichtband herausgebracht, aber der brachte ihm nicht viel ein. Und nun verachtet er, was er schreibt. Zudem steckt er voller Traurigkeit.
Und in dieser Gefühlslage bekommt Richard Sturm, so heißt der Protagonist, einen neuen Auftrag. Er soll für einen Herrn Bischof ein Buch über den Glauben der Menschen schreiben. Nach einigem Überlegen nimmt der Autor den Auftrag an. Mehr und mehr lässt sich Sturm von dem Buchprojekt vereinnahmen und er verliert jegliche Distanz zum Thema. Die Interviews, die er zur Recherche führt, wühlen sein Innerstes auf. Und obwohl er für seine Recherch nur wenige Male Hamburg länger als für ein paar Stunden verlässt, ist der Rechercheprozes eine Reise. Zu sich, zu seiner Vergangenheit und zu einem möglichen neuen Horizont. Man könnte auch sagen er ist dem Sinn seines Lebens auf der Spur.
Auf seiner geistigen Reise trifft Richard Sturm verschiedene Personen, die sich zum Glauben und Leben äußern. Einer etwa betrachtet Religion von Außen und beschreibt Glauben wissenschaftlich. Kann aber selbst nicht mitglauben. Es gibt auch einen Religionskritiker, der gläubige Menschen für eine Gefahr hält. Zudem trifft Sturm auch jene, die etwas Glauben, was sie fanatisiert oder völlig mit Angst erfüllt. Aber am häufigsten trifft er Gesprächspartner, die auch eine Reise hinter sich haben und für sich einen bestimmten Glauben gefunden haben. Sie verbindet, dass sie an etwas hinter dem Sichtbaren glauben, auch wenn sie es unterschiedlich beschreiben und benennen. Diesen positiven Personen und ihren Glaubensweisen fühlt sich Richard mehr und mehr verbunden. Und während ihm seine Gesprächspartner Geschichten und Ansichten erzählen, sucht Sturm selbst nach Worten, wie er sich, das Leben und die Welt treffend beschreiben und benennen könnte. Auf diese Weise werden im Roman der Umgang mit Angst, Selbstzweifeln, die Sehnsucht nach innerem Frieden, der Umgang mit Schuldgefühlen verhandelt.
Staunen statt diskutieren
Auch wenn das Buch vom “SCM Hänssler” Verlag herausgebracht wurde (“SCM” steht für die “Stiftung Christliche Medien” ) ist es nicht so, dass man hier einfach den christlichen Glauben als den besten und schönsten von allen beschrieben bekommt. Das Buch folgt nicht einfach dem Schema, am Anfang steht eine Person, die nicht den christlichen Gott kennt, lernt ein paar falsche Wege kennen und ist am Ende zu Hause in einer bestimmten Kirche mit einem klar umrissenen Gottesbild. So ist es nicht. Statt dessen scheint es Böttcher um ein Sprache zu gehen, die einen Glauben beschreib, ohne einfach auf bekanntes christliches Vokabular zurückzugreifen und dennoch Formen des christlichen Lebens zu benutzen. Man begegnet im Buch durchaus einigen Bibelpassagen, Richard Sturm tut soetwas wie beten, er selbst liest Bibelpassagen und denkt über die Bergpredigt nach. Aber Jens Böttcher stellt den christlichen Bezügen fernöstlich inspirierte Meditationspraxis und Weisheiten an die Seite, die von den Gesprächspartnern Richard Sturms vorgetragen werden. Und der Ich-Erzähler korrigiert das nicht, sondern staunt sehr häufig über die Ruhe und den Frieden, den er bei seinen Gesprächspartnern findet. Mehr noch, er lernt von ihnen.
Fehlende Abgrenzungen oder schwimmende Grenzen als Glaubenserfahrung?
Ich habe das Buch mit Genuss und Gewinn gelesen und gleichzeitig sind bei mir Fragen aufgestiegen, an denen ich auch noch weiterdenken werde.
Was hat mir besonders gefallen? Dass Böttcher anscheinend eine eigene Erkenntnis im Roman verarbeitet, die er für heilsam hält. Es ist eine seltsame Reise, vielleicht lässt sich besser sagen, eine wundersame Reise. Eine die man gerne für wahr halten möchte. Und der Gläubige in mir fühlt sich erinnert, an eigenes Erleben von wundersamen und heilsamen Erlebnissen. Dem Autor möchte ich unterstellen, dass er eine eigene Glaubenserfahrung verarbeitet. Die Form des Romans mit seinen Wendungen hat etwas poetisch zauberhaftes. Das scheint mir dem Gegenstand, es geht ja um den großen Sinn, angemessen.
Der Theologe in meinem Kopf fragt sich: “Ist Gott hier hier nicht zu wenig definiert? Bleibt er nicht etwa zu unklar, zu verschwommen?” Im Buch deutet beispielsweise ein Gesprächspartner von Sturm die gesamte Bibel als Allgorie, als Bild für das innere Erleben eines jeden Menschen. Angefangen bei der Schöpfung, über den Auszug der Israiliten aus Ägypten bis ins neue Testament und der Kreuzigung und Auferstehung von Jesus. Im Buch findet sich keine Entgegnung, dass Teile der biblischen Erzählung auch mit dem Anspruch einmalig und in einer gewissen historischen Weise wahr zu sein daherkommen könnten. Aber man würde Böttcher unrecht tun, wenn man behaupten würde, dass es ihm nur um einen inneren Gott geht. Es gibt auch eine Berührungsebene mit einem äußeren Gott, einem der nicht nur im Kopf von Richard Sturm lebt. Aber Abgrenzung zu den Gesprächspartnern und ein “Geraderücken falscher Gedanken” findet man im Buch fast gar nicht.
An sich kann auch gar kein Wettstreit der Religionen oder Konfessionen stattfinden, weil im Buch keine machtvollen Vertreter institutioneller Religion auftauchen. Kein Bischof, keine Pfarrerin kommt zu Wort. Statt dessen sind die Gesprächspartner Menschen, die von ihrem Alltagsglauben reden. Und sie tun das, ohne von schriftlich fixierten oder auswendig nachgesagten Dogemen zu zitieren. Sie erzählen viel von ihren Erfahrungen und den Deutungen ihres Lebens. Da bleibt einiges Wage. Vieles muss wage bleiben. Und vielleicht ist das auch die Art, wie die meisten Menschen für sich Glaube tatsächlich erleben. Vieles bleibt wage. Und trotzdem gibt es etwas da drin, was mehr ist.
Klarheit, Liebe und Geheimnis
Beim längeren Überlegen, bin ich zu dem Schluss gekommen, dass der Verzicht auf Rechthaberei und eben diese Art wie Böttcher Äußerungen aneinanderbindet ohne sie permanent gegeneinander Abzuwägen mir gefällt. Es wurde viele Jahrhunderte lang immer wieder auch unter Christen gestritten, wie genau nun welcher Teil des Glaubens auszubuchstabieren ist. Böttcher schafft es, so von dem Ganzen zu reden, dass das Buch tiefe Lebenserkenntnisse enthält und dennoch auch etwas von einem Geheimnis erzählt. Gott ist nicht einfach als Subjekt neben anderen zu finden. Er kann nicht bis in den letzten Winkel seines Seins ausgeleuchtet werden. So entsteht im Buch ein Bild von einem geheimisvollen und trotzdem sehr liebenswertem Gott.
Apropos liebenswert. Am Ende, was steht da als Ergebnis? Es hat was mit Liebe zu tun. Und auch mit der Abwesenheit von Liebe. Und um zu verstehen, was Böttcher mit Liebe meint, dazu muss man das Buch lesen.
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Übrigens: In Podcastfolge 009 ist “Herr Sturm und die Farbe des Windes” auch als Weihnachtstipp zu finden. Über den Link springt man direkt zum Kapitel: -> https://heilig.berlin/2017/12/16/009islamweihnachten/?t=51:26,55:22
Das Buch auf der Verlagsseite: -> https://www.scm-shop.de/herr-sturm-und-die-farbe-des-windes.html
Beitragsfoto: U-Banhstation am Chilehaus Hamburg. Stephan Hartmann